Tagebücher aus der inneren Emigration 1933 – 1939
Wer glaubt, das Tagebücher über die innere Emigration Deutscher nach der Machtergreifung der Nazis keinen aktuellen Erkenntnisgewinn bringen, der liegt falsch. Im Gegenteil: ja man sollte so etwas lesen. Nichts geschichtlich Neues, aber etwas über die innere Verfasstheit der Menschen, die in tiefer Ablehnung zu diesem System stehen. Hermann Stresaus Erinnerungen decken in diesem Band die Jahre 1933-39 ab. Stresau, geboren in den USA, arbeitet als Bibliothekar in Berlin, als im Jahr 1933 die Nationalsozialisten durch Wahlen an die Macht kamen. Stresau, der sehr schnell seine feste Anstellung als Bibliothekar verlor, schildert in seinen Tagebüchern nüchtern die Entwicklung und den offenen Machtausbau der Nazis in den Vorkriegsjahren. Mechanismen, die auch heute noch bei der Entwicklung von autoritären Systemen ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Von Opportunisten, die sich aus Karrieregründen dem System andienen, inszenierte Macht- und Propagandademonstrationen, Gleichschaltung von staatlichen und juristischen Bereichen, eine willfährige Bürokratie. Er beschreibt die suggestive Massenwirkung des Regimes, dessen Faszination viele Bürger zu Mitläufern werden lässt.
Stresau ist kein Widerständler, kein Pazifist gewesen. Der eher konservative studierte Germanist verfügt jedoch über einen scharfen, emotionalen Intellekt, der die Verhältnisse klar auf den Punkt bringt. Nicht in der analytischen Brillanz wie in den Tagebüchern von Viktor Klemperer und im fast schon prophetischen Blick von Anna Haag. Aber gerade der nüchterne Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung und den Kampf der Abweichler um einen aufrechten Gang im prekären Alltag ist aufschlussreich. Im Herbst erscheint der zweite Band der Tagebücher von Hermann Stresau – hier wird Göttingen eine zentrale Rolle spielen. Wir sind gespannt.
Text: Ulf Engelmayer
Hermann Stresau – Von den Nazis trennt mich eine Welt, HC, 24€
Klett Cotta, ISBN 978-3-608-98329-6