Keine Buchveröffentlichung hat solche Kontroversen ausgelöst wie Sarah Wagenknechts
Abrechnung mit dem linksliberalen Lager. „Die Selbstgerechten“ kritisiert das Lagerdenken,
die Abschottungstendenzen und den Verlust der sozialen Fragestellungen. Die
Identitätspolitik und die oftmals akademischen Auseinandersetzungen um den politisch
korrekten Sprachgebrauch führen dazu, dass sich die Stammklientel der
sozialdemokratischen Partei und der Linken enttäuscht abwenden. Für Wagenknecht ist die
„linksliberale Erzählung nichts als eine aufgehübschte Neuverpackung des Neoliberalismus“.
„Die abgegriffenen und diskreditierten Begriffe des Marktradikalismus wurden durch neue
ersetzt, die dem alten Sound eine progressive Note verleihen“, so Wagenknecht. In ihrem
neuen Buch spannt sie einen weiten Bogen: von der Zuwanderung, über den Aufstieg
rechtspopulistischer Parteien, die Sinnhaftigkeit von Nationalstaaten zum Zustand der
Wirtschaft heute. Genau das ist ein Problem des Buchs. Viele Themen werden angerissen,
schlagwortartig abgehandelt, Lösungen aufgezeigt, die aus den Gründerjahren der
Bundesrepublik entsprungen sein könnten. Dennoch: viele der Grundannahmen in
Wagenknechts Buch sind richtig, bzw. in einer offenen Gesellschaft diskussionswert. Den
Stachel ausfahren und die Sprachpolizei zu den üblichen Reaktionen zu verlocken, ist
ebenfalls notwendig. Wieso, zeigt allein das jetzt angestrengte Ausschlussverfahren aus der
Linken. Cancel Culture ist das falsche Mittel gegen legitime Kritik in der eigenen Partei. Dies
fördert nur eine Diskurshegemonie, die nichts mit den Traditionen des fortschrittlichen Lagers
zu tun hat. Also lesen, darüber streiten und den Linksliberalismus an den eigenen
Ansprüchen messen.
Text: Ulf Engelmayer
Sarah Wagenknecht – Die Selbstgerechten, geb,24,95€
Campus, ISBN 978-3-593-51390-4