Zwar heißt es im Artikel 1 unseres Grundgesetztes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, schaut man sich aber unseren Alltag an, muss oft bezweifelt werden, dass dieser Satz wirklich verinnerlicht ist. Der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther stellt gleich im Vorspann seines Essays über die Würde die entscheidende Frage: „Verletzt nicht jeder, der die Würde eines anderen Menschen verletzt, in Wirklichkeit seine eigene Würde?“ In einer Zeit, in der viele Bürger ihre Vorstellungen über sich selbst, ihre Art zu leben und zu denken, für allgemeingültig halten, erscheint es umso wichtiger sich mit der Frage des Autors intensiv zu befassen. Der spannende Ansatz dieses Buches ist es, sich den Begriff Würde nicht von der philosophischen Sicht aus anzusehen, sondern aus der naturwissenschaftlichen Perspektive anzunähern. Hierfür werden die neueren Erkenntnisse aus der Hirnforschung, der Entwicklungspsychologie und andere verwandte Wissenschaftszweige ins Feld geführt. Allerdings bleibt die Kernthese des Buches – wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar – nicht wirklich konkret belegbar. Dennoch: Hüthers Betrachtungen zur Entwicklung des kindlich / jugendlichen Gehirns, das Entstehen von Individualität, die Herausbildung eines Wertekanons, sowie die Erfahrung enger Verbundenheit mit anderen Menschen, diese Schilderungen sind hoch unterhaltsam und erkenntnisreich. In Zeiten erheblicher Unsicherheit und permanenter Veränderungen, gibt es nach Ansicht des Autors nur eine angemessene Antwort. „Statt ständig die Welt nach unseren Vorstellungen verändern zu wollen, bleibt uns heute nichts anderes übrig, als unsere bisherigen Vorstellungen von uns selbst zu verändern.“ Ein Buch, das man immer wieder aus dem Bücherschrank hervorholen wird.
Text: Ulf Engelmayer
Gerald Hüther – Würde, geb, 20€
Knaus, 978-3-8135-0783-6