Er ist einer der bekanntesten französischen Soziologen und wurde durch sein Buch „Rückkehr nach Reims“ auch im deutschsprachigen Raum einem breiten Publikum bekannt. Jetzt sein neues Buch „Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben“. Ein weiterer Text über die Familie Eribon, hier über die letzten Monate im Leben seiner Mutter. Auch sie Mutter kann dem Schicksal, ihren Lebensabschluss im Altenheim erbringen zu müssen, nicht entrinnen. Sehr persönlich erzählt der Autor über die komplizierte Suche nach einem – auch bezahlbaren – Heimplatz. Er lernt dadurch das inhumane „Verwahrsystem“ für alte Menschen im Detail kennen und erfährt am Beispiel seiner Mutter den schnellen mentalen und körperlichen Verfall von alten Menschen in diesem System. Das Heim wird Ausgangspunkt für Erinnerungen an die Mutter. Ihre deprimierende Arbeit in der Fabrik, das Privatleben mit einem despotischen Ehemann, ihre rassistischen Anmutungen. Auch ein später Neuanfang mit einem neuen Lebensgefährten wärt nur kurz. „Meine Mutter war ihr ganzes Leben lang unglücklich“, schreibt Eribon. Aus seinem Vorsatz, sie öfter in Fismes, einem kleinen Ort in der Champagne zu besuchen, wird nichts. Seine Mutter stirbt wenige Wochen nach ihrem Umzug ins Pflegeheim. „Eine Arbeiterin“ wird durch die Erlebnisse Eribons mit dem französischen Gesundheits- und Pflegesystem zu einer lauten und radikalen Kritik an den Verhältnissen im Umgang mit alten Menschen. Übrigens direkt übertragbar auf die deutschen Zustände. Dies ist aber nur ein – zunächst offensichtlicher Aspekt – des Buches. Wichtiger sind die persönlichen Reflexionen des Autors. Seine immer wiederkehrende Scham über seine Herkunft, die nichts mehr mit senem intellektuellen und kulturellen leben im fernen Paris zu tun hat. Aber auch klare Erinnerungen an bestimmte Lebenssituation, wie z.B. den exzessiven Fernsehkonsum der Mutter und ihre entsprechenden Kommentare, Eribons Auseinandersetzungen mit seinen Geschwistern, die in einer anderen Welt leben als der intellektuelle Bruder. So entwickelt sich das Buch von einer reinen autobiographischen Erzählung, über eine kritische und dadurch politische Reflexion zu einer Abrechnung mit den Verhältnissen. Garniert mit zahlreichen literarischen Häppchen intellektueller Zeitgenossen. Zum Ende des Buches überwiegt das Thema Dankbarkeit gegenüber der Mutter. Ein Befund, den viele Leser*innen nachvollziehen können, wenn die Eltern nur noch Vergangenheit sind. Damit wir „Eine Arbeiterin“ ein Buch, das ähnlich wie „Rückkehr nach Reims“ auch indirekt viele eigene Biografien abbildet. Die ausverkaufte Lesung von Didier Eribon im Alten Rathaus in Göttingen scheint dies auch zu bestätigen. Kein Buch für die hinteren Reihen im Bücherregal!
Didier Eribon – Eine Arbeiterin ist erschienen im Suhrkamp Verlag und kostet 25 €. ISBN 978-3-518-43175-7
Text: Ulf Engelmayer
Bewertung *****