Zieht man sein marginales Schulwissen heran, um zu überlegen, was im Jahr 1848 stattfand, findet man nicht viel. Das war auch schon in den Zeiten so, als Geschichtsunterricht überwiegend aus dem Auswendiglernen von Geschichtszahlen bestand. In den deutschen Kleinstaaten ist damals von einer politischen Krise ist die Rede, Bürger verlangen nach mehr Mitsprache, eine Verfassung abseits der Privilegien des Adels. Die Forderung nach einem Nationalstaat wird beim Aufruhr in einzelnen deutschen Städten laut. Im Jahr 1848 versammelten sich in der Frankfurter Paulskirche die Mitglieder des ersten gesamtdeutschen Parlaments, um über eine freiheitliche Verfassung sowie über die Bildung eines deutschen Staatsgefüges zu beraten.
Jetzt hat der renommierte Historiker Christopher Clark ein monumentales Werk über diesen bedeutenden Zeitabschnitt vorgelegt. Schon der Einbanddeckel enthält eine Überraschung. Die Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren nicht eng begrenzt, sondern erfassten den gesamten europäischen Raum. Sie reichten von der Rebellion in Madrid bis zu den Aufständen in der Walachei und in Moldau.
Die Ursachen dieser sehr heterogenen Bewegungen waren vielfältig. Die Forderungen nach mehr politischer Mitsprache waren nur ein Teilaspekt. Oft vor dem Hintergrund, dass die damaligen politischen Vertretungen nur einen Bruchteil der Bevölkerung vertraten. Eine wachsende soziale Krise verschärfte das Problem. Massenverelendung, Bevölkerungswachstum, Industrialisierung kombiniert mit zunehmendem Konkurrenzdruck verschärften die Konflikte. Christopher Clark nimmt den Leser in seinem über 1000-seitigen Buch, mit auf eine detailreiche Reise in die damalige Zeit. Europa war damals in einem allgemeinen Aufruhr, ohne das konkrete Lösungen für die Probleme am Horizont sichtbar waren. Es waren nicht nur die Radikalen, die Sozialisten, die im Aufschwung waren. Vorreiterinnen der Frauenrechte meldeten sich lautstark und originell zu Wort, der Journalismus wurde für die Herrschenden zur Gefahr. Aber auch die Konservativen erfanden sich neu. Die katholische Kirche fand zu neuer Stärke zurück, evangelikale Splittergruppen etablierten sich. Es gab Regimewechsel, Aufstände scheiterten, führende Gruppen spalteten sich.
Diese komplette Unübersichtlichkeit der damaligen Ereignisse spiegelt sich auch im Buch wider. Clark bemüht sich um eine gewisse Struktur, scheitert oft aber am Detailreichtum der geschilderten Ereignisse. Dies tut dem Lesevergnügen und dem großen Erkenntnisgewinn keinen Abbruch. „Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt“ hat zudem einen großen Aktualitätsbezug zur heutigen Zeit. Ereignisse treten plötzlich ein, oft getriggert durch vermeintlich profane Aufreger, wie z.B. Steuern, die zivilisatorische Decke wird schnell verlassen, das Geschehen unkalkulierbar. Ein Buch nicht nur für Leser historischer Werke, sondern gerade für diejenigen die verstehen wollen, wie Geschichte funktioniert. Nach Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ ein weiteres Meisterwerk historischer Abhandlungen.
Text: Ulf Engelmayer
Christopher Clark – Frühling der Revolution ist im DVA Verlag erschienen und kostet 48€; ISBN 978-3-421-04829-5
Bewertung ★★★★★☆