Manche Rezensenten mögen den neuesten Roman von Stephen King nicht für den Besten halten. Dennoch: wieder einmal hebt er sich von der sonst üblichen Krimimassenware erfreulich ab. Die Titelheldin ist eine alte Bekannte aus dem literarischen Universum des Autors. Die Privatermittlerin Holly Gibney, bekannt aus dem Roman Mr. Mercedes. Sie befindet sich in einer Lebenskrise, möchte eigentlich zurzeit keine Aufträge entgegennehmen. Als eine Mutter sie bittet, nach ihrer verschwundenen Tochter zu suchen, nimmt sie nach einigem Zögern den Auftrag an. Bei den Ermittlungen stößt sie schnell auf weitere ungelöste Vermisstenfälle. Ein emeritiertes Akademikerpaar steht im Zentrum der Geschehnisse, die sich zuspitzen. Damit gerät nicht nur das schon schwierige Privatleben von Holly Gibney außer Kontrolle, sondern beim betagten Mörderpaar läuft nichts mehr nach Plan.
Schon nach wenigen Seiten wird dem Leser klar, wer hinter den Verbrechen steckt. Dieser Kunstgriff – nicht neu, aber effektvoll – bietet die Möglichkeit die Geschichte auf mehreren Ebenen zu erzählen. Gerade dies beherrscht Stephen King in seinen Romanen meisterhaft. „Holly“ ist ein Rückgriff auf die Bücher abseits von Fantasy und übersinnlichen Grusel. Hier regieren der menschliche Wahn, die alltäglichen Abgründe und Schrullen, der Hass auf Minderheiten. Alles angesiedelt in der Postcoronazeit und der gesellschaftlichen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Dies erzeugt beim Leser einen zusätzlichen Gruseleffekt.
Den neuen Stephen King zu lesen bedeutet: fängst du damit an, hörst du erst am Ende damit auf.
Text: Ulf Engelmayer
„Holly“ von Stephen King ist erschienen bei Heyne und kostet 28 €
ISBN 978-3-453-27433-4