Zeitgenössische tschechische Schriftsteller sind trotz der geografischen Nähe zu Deutschland oft nur den eingefleischten Literaturkennern bekannt. Das sollte sich dringend ändern. Ein guter Einstieg dazu ist Jaroslav Rudiš Roman „Winterbergs letzte Reise“. Eine Reise in Regionen, die oft dem westdeutschen, westeuropäischen Blick verschlossen bleiben, ist das Kernthema des Buches. Winterberg, schwerkrank, macht sich mit seinem Pfleger Jan Kraus auf eine lange Zugreise in seine Vergangenheit. Von Berlin aus reisen beide tief ins Böhmerland, über Bratislava und Budapest nach Laibach. Auch Winterbergs Pfleger Jan Kraus hat osteuropäische Wurzeln. Wie Winterberg, holt ihn auf der Fahrt seine Vergangenheit ein. Der Leser steigt in diesem genialen Roman tief in die bewegte Geschichte Mittel- und Osteuropas ein. Viele Erinnerungen und Schnittpunkte, die in den Jahren des Eisernen Vorhangs verloren gegangen sind, tauchen wieder auf. „Prag schauen wir uns in Wien an“, spricht Winterberg. Überhaupt sprechen: auf seiner „Überfahrt“ genannten Reise, hält Winterberg endlose Monologe. Er zitiert aus alten Reiseführern und erzählt seine äußerst originelle Familiengeschichte. Dies wirkt nicht aufdringlich – natürlich hat dazu der Pfleger Jan Kraus eine andere Meinung. Der Leser wird dadurch tiefer und bildlicher in die Geschichte hineingezogen.
Wer dieses Buch liebt, wird der Verlockung nicht wiederstehen können, einige Städte selbst aufzusuchen und Winterbergs letzte Reise im Zug lesen.
Text: Ulf Engelmayer
Jaroslav Rudiš – Winterbergs letzte Reise, geb, 24€
Luchterhand, 978-3-630-87595-8