Dieses Buch ist ein Ereignis. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen in der Darstellungsform, zwei Handlungen auf unterschiedlichen Zeitachsen werden parallel erzählt. Zum anderen führt diese Zeitreise tief in die Befindlichkeiten und Mythen der alten Bundesrepublik. Otremba erzählt mit einer Unerbittlichkeit, die man selten in der deutschen Literatur in diesem Millennium erlebt. Worum geht es? Im Jahr 1995 begibt sich eine Pfadfindergruppe auf eine dreiwöchige Flussfahrt in Westdeutschland. Alle tragen originelle Fahrtennamen. Der elfjährige Ich-Erzähler Cherubim teilt sich ein Boot mit dem blinden Benito, einem intelligenten introvertierten Jungen, der sich die Welt durch seine andere Wahrnehmung erschließt und scharfsinnig kommentiert. Bei einem Jagdunfall wird der Anführer der Gruppe getötet. Anstatt die Fahrt abzubrechen, setzen die Pfadfinder ihre Flussreise fort. Verstörende Erlebnisse folgen. Niemand kehrt von der Reise unverändert zurück, insbesondere Benito.
Jahrzehnte später. Aus Cherubim ist ein bekannter Schriftsteller geworden. Er erhält eine rätselhafte Einladung zu einem Empfang in Bonn. Vor ca. 300 versammelten Gästen taucht ein Mann im Saal auf und schießt wild um sich – die Vergangenheit Cherubim wieder eingeholt.
Hendrik Otremba, geboren 1984 in Recklinghausen ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Dozent, freier Journalist, bildender Künstler und Sänger der Gruppe Messer. Benito ist sein dritter Roman, so vielschichtig wie sein Autor. Es geht um Einsamkeit, das Dazugehören – oder auch nicht. Die Rolle in der Welt, die Sicht auf die Dinge, das schwadronieren darüber. Auch Ordnungsfragen werden abgehandelt, z.B. wie es möglich sein kann, sich in einer assoziativ sortierten Plattensammlung zurechtzufinden. Otremba hat diesen Roman streng getrennt in zwei Handlungssträngen geschrieben, was zu der Schwierigkeit geführt hat, beide Stränge wieder zusammenzuführen. Das es gelungen ist, werden die Leser:innen erfahren, die sich auf dieses vielschichtige Buch einlassen. Über die beiden charakterlichen Pole Cherubim und Benito ließen sich abendfüllende Diskussionen führen. Kein Buch zum Weglegen, sondern zum Befüllen mit Bookmarkern und neuerforschen.
Das Buch ist erschienen im März Verlag – ja es gibt ihn wieder diesen wohl aufregendsten deutschen Verlag, der ab 1969 mit seinen gelb-roten Büchern die verstaubte Kulturszene aufmischte.
Text: Ulf Engelmayer
Hendrik Otremba – Benito, HC, 28€
März Verlag, ISBN 978-3-7550-0007-5