Er hat mit der Filmtrilogie „Heimat“ Filmgeschichte geschrieben, der deutsche Autorenfilmer Edgar Reitz. Jetzt hat der mittlerweile neunzigjährige Filmemacher beim Rowohlt Verlag seine Erinnerungen veröffentlicht. Gleich vorab: „Filmzeit, Lebenszeit“ ist ein Meisterwerk der Erzählkunst, eine Autobiografie – oder präziser gesagt Erinnerungen. Zudem hat der Autor einiges zu erzählen. Aufgewachsen in der geistigen Enge des Hunsrücks, der Vater schlägt sich als Uhrmacher mehr schlecht als recht durchs Leben, verschlägt es Reitz zum Studium nach München. Eine aufregende Zeit, Studentenrevolte, neue Lebensformen, Aufbrüche in der Kulturlandschaft. Das Oberhauser Filmfest wird zur Geburtsstätte des Autorenfilms. Einer der Mitgründer ist Edgar Reitz. Nach einer bemerkenswerten Karriere als Industriefilmer zieht es ihn zum Spielfilm. Erste Gedanken zum Projekt „Heimat“ entstehen. Finanziert durch den WDR lässt sich diese Hommage an seine Hunsrücker Heimat endlich realisieren und wird gerade im Kino ein Welterfolg. Zwei weitere – heute würde man sagen Staffeln – folgen. Reitz zeigt in seinem Buch wie schwierig es war, sich als Autorenfilmer, als Künstler in der deutschen Förderlandschaft durchzusetzen, ohne den eigenen Anspruch an die Produktion zu verlieren, bzw. abgeben zu müssen. Der Kreis schließt sich mit der Kinoproduktion „Eine andere Heimat“ über Hunsrücker Auswanderer nach Brasilien. Der große Charme dieser Erinnerungen besteht aber in der Lebensgeschichte des Autors, die gespickt ist mit zahllosen Anekdoten und Erlebnissen. Wie wenig man das Leben der eigenen Verwandten kennt, zeigten die überraschenden Entdeckungen, die der Autor bei der Regelung des Nachlasses seines Bruders macht. Dieser schüchterne und in sich gekehrte Mann entpuppte sich als Sprachgenie und hinterließ eine Fachbibliothek von 20000 Bänden. Reitz selbst schont sich in seinen Erinnerungen nicht. Selbstkritisch schreibt er über seine Beziehungen, die immer starken Belastungen durch seine Arbeit ausgesetzt waren. Was ist Erinnerung? Wie entsteht sie? Wie wirkt sie auf die Wahrnehmung ein und welchen Einfluss hat sie auf die zu Papier gebrachten Erinnerungen? Fragen, die ihn durch sein ganzes Buch begleiten. Zum Schluss eine intensive Beschäftigung mit dem Begriff Heimat. Ein gerade in den 60ger Jahren negativ besetzter Terminus. Reitz dazu: „…Heimat ist überall und nirgends, je nachdem, wie wir uns bewegen. Gehen wir von ihr fort, fühlen wir einen Schmerz des Verlusts; kehren wir zurück, wird die Heimat immer kleiner, bis sie ganz in sich zusammenschrumpft.“Wie das Filmwerk von Reitz verlangt auch das Buch dem Leser einiges an Durchhaltevermögen ab. Dies wird aber mit einem intimen Blick in die große Zeit des deutschen Autorenfilms belohnt. Auch in der Literatur ist Edgar Reitz zu großen Tiefenerkundungen menschlicher Existenz in der Lage. Großes Buch, großer Autor: Chapeau!
Text: Ulf Engelmayer
Edgar Reitz – Filmzeit, Lebenszeit – Erinnerungen, HC, 30€
rowohlt Berlin, ISBN 978-3-7371-0159-2