Schreiben was ist, als Zeitzeuge Zeugnis ablegen über die Welt in der man lebt und was diese Welt mit einem macht. Aktueller denn je sind in der heutigen Zeit Tagebuchaufzeichnungen von Menschen, die die Jahre 1933-1945 in Deutschland miterlebt haben, Jetzt sind bei Reclam die Tagebücher von Anna Haag aus den Jahren 1940-1945 erschienen. Haag war eine deutsche Schriftstellerin, Pazifistin, Frauenrechtlerin und Mitglied der SPD. Sie saß als Abgeordnete der SPD im baden-württembergischen Landtag und war u.a. an der Konzeption vom Gesetz zur Wehrdienstverweigerung beteiligt. „Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode“, so der bezeichnende Titel ihrer Erinnerungen. Sie schrieb diese geheimen Tagebücher in zwanzig Kladden zusammen, die sie zuerst in ihrem Keller unter Kohlen versteckte, später im Garten vergrub. Nach dem Krieg entstand daraus ein 500 seitiges Typoskript. Es gibt einen tiefen Einblick in das damalige Alltagsleben in der deutschen Provinz und zeigt deutlich die totale Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft und die daraus entstandene breite Zustimmung zum Regime bis zum totalen Untergang. Detailliert beschreibt Haag ihre Gespräche im Freundeskreis, in der Stadt. „Vertraue keiner Wand“, das ist der Leitspruch der systemkritischen Bürger, die es trotz brutalster Propaganda des faschistischen Staates gibt. Unter größten Vorsichtsmaßnahmen wird der Feindsender BBC gehört, um sich ein unschönes Bild von der wahren Lage zu machen. Über Berichte von der Front, Erfahrungen von Zwangsarbeitern, erfährt man Details über die Unterdrückungsmaschinerie. Akribisch notiert Haag weiter Gesprächsfetzten in der Straßenbahn, die alltägliche Gerüchteküche über neue Wunderwaffen, den über Deutschland tobenden Bombenkrieg. 1945 schreibt Haag: “Sich das Kriegsende vorstellen! Sich die Leere vorzustellen, den Abgrund, dass Nichts, vor dem wir in Deutschland stehen werden! …ein Nichts hinsichtlich der moralischen Begriffe.“
Ein wahrhaftiges, wichtiges Buch, das zeigt was passiert, wenn alle Gewissheiten schwinden und man sich nicht einmal innerhalb der eigenen, erweiterten Familie auf Rückendeckung verlassen kann.
Es ist dem Reclam Verlag zu verdanken, dass Anna Haags Tagebücher nun einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.
Text: Ulf Engelmayer
Anna Haag – Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode, geb, 35,00€
Reclam, 978-3-15-011313-4