Bobby Gillespie – Tenement Kid

Autobiografien sind auch bei Rockstars ein angesagtes Tool, ihre Erinnerungen aus erster Hand zu Papier zu bringen. Nun hat Bobby Gillespie, bekannt als Frontmann der britischen Band Primal Scream, mit „Tenement Kid” (deutsch: Mietshaus Kind) einen umfangreichen Buchklotz vorgelegt. Er beschreibt darin seine Kindheit und Jugend in den rauen Vierteln von Glasgow in den 1960er und 70er Jahren und das wilde Leben als Musiker von der Punkzeit bis hinein in die 90ger Jahre. Die Autobiografie gibt einen tiefen Einblick in die Entwicklung des Mannes, der später das musikalische Phänomen von Primal Scream mitgeprägt hat.
Gillespie zeichnet in “Tenement Kid” ein lebendiges und oft schonungslos offenes Bild seiner Kindheit. Man spürt die Wucht und die Rebellion seiner Jugend in den trostlosen Vierteln von Glasgow aber auch das Aufeinandertreffen von Hoffnung und Enttäuschung, dass seine frühe Lebenswelt dominierte. Glasgow als ein Ort des Überlebens – eine Stadt, die von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialen Spannungen geprägt ist, die aber auch ein Platz der Clubs, der schrägen Bands ist. Zur Klarstellung: „Tenement Kid“ ist ein Buch für den musikalischen Nerd, der sich für Bands abseits des musikalischen Mainstreams interessiert. Der noch eine Ahnung davon hat, dass der persönliche Musikgeschmack immer ein Destinktionsmerkmal ist, sich von anderen sozialen Gruppen zu unterscheiden. Sei es durch den persönlichen Habitus, die Kleidung oder ein spezielles „Kennertum“. Gillespie hat dies in seinem Leben immer herausgestellt. Sozialisiert durch die Verhältnisse in Glasgow und seinen politisch engagierten Vater und Gewerkschaftler hat er einen klaren Blick entwickelt für soziale Ungerechtigkeiten.
Was das Buch besonders faszinierend macht, ist die Art und Weise, wie Gillespie die Entwicklung seiner Liebe zur Musik beschreibt. Schon früh war er von Musik umgeben, sei es durch die Musikalität seiner Familie oder durch die kulturellen Strömungen, die die 60er und 70er prägten. *”Tenement Kid”* ist voll von Anspielungen auf die kulturellen Ikonen und Bewegungen, die seine musikalische Laufbahn beeinflussten – von den Rolling Stones bis hin zu den Sex Pistols. Die Entstehung seiner eigenen Musik ist im Kontext dieser prägenden Einflüsse gut verankert und bietet wertvolle Einblicke in die Entwicklung eines Musikerlebens. Neu sicherlich für viele Leser – ja es ist eigentlich ein „Jungsbuch“ – ist Gillespies Zeit in der Avantgarde- und Krawallband „Jesus and the Mary Chain“. Dort war er an der Trommel zu finden.
Geprägt durch die schweren sozialen und prekären Umstände wirken Gillespies Schilderungen streckenweise sehr düster, versinken zudem im exzessiv beschriebenen Drogennebel. Dennoch dominiert die starke Präsenz des Autors, Niederlagen und der lange, oft mühselige Weg zum Erfolg werden eindrücklich beschrieben. Aber auch mitunter sehr sprunghaft und detailverliebt. Hier wären deutliche Kürzungen im Text für den Lesefluss hilfreich gewesen. Zudem könnte man sagen, dass der Teil über die musikalische Entstehungsgeschichte von Primal Scream, insbesondere die frühen Jahre der Band, zu wenig detailliert und eher als Randnotiz behandelt wird. Fans der Band hätten sich hier vielleicht eine tiefere Auseinandersetzung mit der Entstehung der legendären Alben gewünscht, aber das Buch bleibt hier oft eher vage und behandelt diese Themen eher als Fußnoten. Ausnahme sind die Weggefährten der Band, die maßgeblich zum Erfolg von Primal Scream beigetragen haben, wie zum Beispiel der Produzent Andy Weatherall. Sein Remix von „Loaded“ war die Initialzündung für den Erfolg von Primal Scream. Der Track wurde in der Zeit von Acid House in jedem Club hoch und runter gespielt.

Trotz der oft sprunghaften Abschnitte im Buch, ist „Tenement Kid“ hoch unterhaltsam. Eine entscheidende Entwicklungsphase der britischen Popmusik wird hier sehr kenntnisreich aus erster Hand vor dem Leser ausgebreitet, dies mit vielen unbekannten Aspekten. Eine Zeit, die nach dem Untergang der meisten Indielabels auch nicht wieder zurückkommt. Ein Buch, definitiv nicht nur für Fans der Band Primal Scream, sondern für Alle für die Rock- und Popmusik mehr ist als nur das das Abspielen von Tracks auf einem Streamingdienst.

Bobby Gillespies Buch „Tenement Kid“ ist erschienen bei Heyne Hardcore, hat 500 Seiten sowie eine Bildstrecke und kostet 24 € ISBN 978-3-453-27392-4
Ulf Engelmayer

Bewertung ****

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