Es ist immer ein Ereignis, wenn ein neues Buch des britischen Skandal Autors John Niven erscheint. Diesmal ist es eine echte Überraschung: oh Brother, erzählt die Geschichte von seiner Familie. Anlass dieser Autobiografie war der tragische Selbstmord seines jüngeren Bruders Gary im Alter von 42 Jahren. Unterschiedlicher können diese beiden Brüder nicht sein. Auf der einen Seite der erfolgreiche studierte Buchautor, der vor seiner literarischen Karriere als Manager in der Platten Industrie arbeitete. Auf der anderen Seite der jüngere Bruder Gary, das schwarze Schaf der Familie. Ein eigensinniger und jähzorniger junger Mann, im ständigen Konflikt mit seinem Vater und auf der ewigen Suche nach seiner eigenen Berufung. Im Laufe der Jahre entwickelt er sich zu einem lebensunfähigen kleinen Gangster, auf dicke Hose machend, ständig geplagt von finanziellen Engpässen. Nach dem Krebs Tod des Vaters wird er geplagt von Drogen und Alkoholmissbrauch, der zu Selbstzerstörung führt. Hinzu kommt ein chronischer Clusterkopfschmerz, der ein normales Leben unmöglich macht. Völlig aus der Bahn gerät er nach einem zweijährigen Gefängnis Aufenthalt wegen Drogenhandels. Nach einem Selbstmordversuch liegt er im Koma. Sein Bruder John und seine Schwester Linda kommen gemeinsam mit seiner Mutter an seinem Krankenbett zusammen. Nach dem erschütternden Todeskampf von Gary, macht sich John auf die Spurensuche: wie konnte es so weit kommen? Er erzählt die Geschichte seiner Familie, aus der schottischen Arbeiterklasse kommend, irgendwo zwischen Aufstieg und Scheitern. Lesend verfolgen wir die Geschichte dieser ungleichen Brüder, witzig, traurig, dramatisch. Es ist zugleich ein Blick in die Popgeschichte Ende der achtziger und neunziger Jahre, als dort noch alles möglich war. John Niven schont sich in dieser Autobiografie nicht. Kritisch schildert er seine Exzesse als A & R. Manager in der Musikindustrie, das Scheitern seiner Ehe und unterzieht sich einer schonungslosen Selbstbefragung. Wie hätte er seinem Bruder besser helfen können? Was ist sein Anteil am Freitod von Gary? Ein bewegendes, ehrliches Buch, das auch die Leser:innen nicht unbewegt lässt. Insbesondere die letzten 15 Seiten über das Lebensende von Gary hängen dem Leser noch sehr nach. Eine der besten und wahrhaftigsten Autobiografien der letzten Jahre. Ein Schriftsteller auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens.
O Brother von John Niven ist erschienen bei BTB und kostet 24€
ISBN 978-3-442-76248-4
Text: Ulf Engelmayer