Es ist ein schlechtes gesellschaftliches Zeichen, wenn Essays eines jüdischen Autors aus den Jahren 1969 und 1976 in der heutigen Zeit immer noch brandaktuell sind. Der Klett-Cotta Verlag hat jetzt diese Texte neu aufgelegt, mittlerweile in der dritten Druckauflage. Der Autor, Jean Améry, zählt zu den wichtigsten europäischen Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts. Améry, geboren 1912 in Wien hat sich zeitlebens mit den Traumata der Juden in der Diaspora und im jüdischen Staat auseinandergesetzt. Zu diesem hatte er immer eine solidarische, aber kritische Haltung. Seine Enttäuschung über die deutsche Linke, deren antizionistische Haltung ihn schier verzweifeln ließ, war ein Grund für ihn, sich aus der öffentlichen Diskussion Ende der 70ger Jahre zurückzuziehen. Im Oktober 1978 wählte er den Freitod.
Beim Lesen von „Der neue Antisemitismus“ muss man schnell feststellen, wie aktuell diese Texte immer noch sind. Améry würde wohl heute die Haltung der orthodoxen Juden gegenüber ihren Nachbarn genauso hart verurteilen, wie er es damals getan hat. Aber, auch seine damalige Analyse über antisemitische Grundstrukturen in der westlichen und arabischen Welt hat immer noch Bestand. Nur das „wording“ ist anders, insbesondere in Teilen der Linken. Eine Pflichtlektüre für jeden aufgeklärten Menschen, vielleicht auch der Beginn der Wiederentdeckung dieses bedeutenden Intellektuellen.
Text: Ulf Engelmayer
Bewertung 4*
Jean Améry – Der neue Antisemitismus, TB, 18,-€
Cotta, ISBN 978-3-7681-9828-8